Ambulante Pflegedienste melden hohe Personalkostensteigerungen aufgrund der Umsetzung des Tariftreuegesetzes. Marktbeobachter sehen erhöhte Insolvenzgefahr im ambulanten Pflegebereich.

Kennen Sie solche oder ähnliche aktuelle Aussagen aus Ihrem beruflichen Umfeld? Im Herbst 2022 hat sich nach Corona und den Verpflichtungen aus dem Tariftreuegesetz die wirtschaftliche Situation für viele ambulante Pflege- und Betreuungsdienste in Deutschland verschärft. Es ist zu befürchten, dass ambulante Dienste ohne ausreichende Liquidität oder geringen strategischen Perspektiven im Winter 2022 oder im ersten Halbjahr 2023 schließen oder Insolvenz anmelden müssen. 

Handlungsbedarf für die Politik entstand in den letzten Jahren aus der Feststellung, dass a) die Pflege als Arbeitsplatz unattraktiv wahrgenommen wurde und b) eine große Differenz in der Vergütung der Pflegemitarbeiter/innen festgestellt wurde. 

In einem ersten Schritt wurde daher politisch versucht, einen allgemein verbindlichen Pflege-Tarif in Deutschland einzuführen. Dagegen hatten sich eine Reihe von Wohlfahrtsverbänden und Berufsverbände ausgesprochen.

Daraufhin entstand das vom Gesetzgeber beschlossene Tariftreuegesetz mit dem Ziel, die Vergütungen in der Pflege für eine Vielzahl von Mitarbeiter/innen deutlich zu erhöhen und somit auch die Pflege wieder attraktiver zu machen. Die Pflege- und Krankenkassen wurden gleichzeitig verpflichtet, die Personalkosten der ambulanten Dienste aus den regional üblichen Entgelten oder Tarifanlehnungen anzuerkennen und auf Antrag mit den Pflegediensten neue, höhere Vergütungsvereinbarungen abzuschließen. Tatsächlich erhalten zu Ende September eine Reihe von Mitarbeiter/innen z.T. 10 – 20 % mehr Gehalt als vorher. Die Punktwerte in der ambulanten Vergütung nach SGB XI und die Vergütungsvereinbarungen in der häuslichen Krankenpflege nach SGB V sind jedoch noch nicht oder nicht in der Höhe der Kostensteigerungen neu vereinbart.

Aktuell große finanzielle Belastungen für die ambulanten Pflege- und Betreuungsdienste. 

Ist keine Perspektive für die ambulante Pflege vorhanden? Doch. Es gibt nicht nur Schatten, sondern auch Licht am Ende des Tunnels.

Teil 1: Grundlagen

Gehen wir noch einmal zu den Grundlagen zurück. Eine der rechtlichen Grundlagen ist in § 72 SGB XI (Zulassung zur Pflege durch Versorgungsvertrag) geregelt. Ein Auszug aus dem Gesetz:

  • Die Pflegekassen dürfen ambulante Pflege nur durch Pflegeeinrichtungen gewähren, mit denen ein Versorgungsvertrag besteht (zugelassene Pflegeeinrichtungen). In dem Versorgungsvertrag sind Art, Inhalt und Umfang der allgemeinen Pflegeleistungen (§ 84 Abs. 4) festzulegen, die von der Pflegeeinrichtung während der Dauer des Vertrages für die Versicherten zu erbringen sind (Versorgungsauftrag).
  • Der Versorgungsvertrag ist für die Pflegeeinrichtung und für alle Pflegekassen im Inland unmittelbar verbindlich. 
  • Bei Betreuungsdiensten nach § 71 Absatz 1a sind bereits vorliegende Vereinbarungen aus der Durchführung des Modellvorhabens zur Erprobung von Leistungen der häuslichen Betreuung durch Betreuungsdienste zu beachten.
  • Versorgungsverträge dürfen nur mit Pflegeeinrichtungen abgeschlossen werden, die 

1. den Anforderungen des § 71 genügen,

2. die Gewähr für eine leistungsfähige und wirtschaftliche pflegerische Versorgung bieten und die Vorgaben des Absatzes 3a oder Absatzes 3b erfüllen,

3. sich verpflichten, nach Maßgabe der Vereinbarungen nach § 113 einrichtungsintern ein Qualitätsmanagement einzuführen und weiterzuentwickeln,

4. sich verpflichten, alle Expertenstandards nach § 113a anzuwenden,

5. sich verpflichten, die ordnungsgemäße Durchführung von Qualitätsprüfungen zu ermöglichen,

  • ein Anspruch auf Abschluß eines Versorgungsvertrages besteht, soweit und solange die Pflegeeinrichtung diese Voraussetzungen erfüllt.
  • Bei ambulanten Pflegediensten ist in den Versorgungsverträgen der Einzugsbereich festzulegen, in dem die Leistungen ressourcenschonend und effizient zu erbringen sind.

Neu ist durch das Tariftreuegesetz hinzugekommen:

  • (3a) Ab dem 1. September 2022 dürfen Versorgungsverträge nur mit Pflegeeinrichtungen abgeschlossen werden, die ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die Leistungen der Pflege oder Betreuung von Pflegebedürftigen erbringen, Gehälter zahlen, die in Tarifverträgen oder kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen vereinbart ist, an die die jeweiligen Pflegeeinrichtungen gebunden sind.

(3b) Mit Pflegeeinrichtungen, die nicht an Tarifverträge oder kirchliche Arbeitsrechtsregelungen für ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Leistungen der Pflege oder Betreuung von Pflegebedürftigen erbringen, gebunden sind, dürfen Versorgungsverträge ab dem 1. September 2022 nur abgeschlossen werden, wenn diese Pflegeeinrichtungen ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die Leistungen der Pflege oder Betreuung für Pflegebedürftige erbringen, eine Entlohnung zahlen, die 

1. die Höhe der Entlohnung eines Tarifvertrags nicht unterschreitet, dessen räumlicher, zeitlicher, fachlicher und persönlicher Geltungsbereich eröffnet ist,

2. die Höhe der Entlohnung eines Tarifvertrags nicht unterschreitet, dessen fachlicher Geltungsbereich mindestens eine andere Pflegeeinrichtung in der Region erfasst, in der die Pflegeeinrichtung betrieben wird, und dessen zeitlicher und persönlicher Geltungsbereich eröffnet ist,

3. die Höhe der Entlohnung von Nummer 1 oder Nummer 2 entsprechenden kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen nicht unterschreitet oder

4. hinsichtlich der Entlohnungsbestandteile nach Satz 2 Nummer 1 bis 5, die den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern der in § 82c Absatz 2 Satz 4 genannten Qualifikationsgruppen jeweils im Durchschnitt gezahlt werden, die Höhe der jeweiligen regional üblichen Entlohnungsniveaus nach § 82c Absatz 2 Satz 2 Nummer 2 und hinsichtlich der pflegetypischen Zuschläge nach Satz 2 Nummer 6, die den in Satz 1 genannten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Durchschnitt gezahlt werden, die Höhe der regional üblichen Niveaus der pflegetypischen Zuschläge nach § 82c Absatz 2 Satz 2 Nummer 3, jeweils in der nach § 82c Absatz 5 veröffentlichten Höhe, nicht unterschreitet.

Zur Entlohnung im Sinne dieses Gesetzes zählen 

1.der Grundlohn,

2.regelmäßige Jahressonderzahlungen,

3.vermögenswirksame Leistungen des Arbeitgebers,

4.pflegetypische Zulagen,

5.der Lohn für Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft sowie

6.pflegetypische Zuschläge.

(3d) Pflegeeinrichtungen haben den Landesverbänden der Pflegekassen zur Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des Absatzes 3a oder des Absatzes 3b mitzuteilen, 

1.an welchen Tarifvertrag oder an welche kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen sie gebunden sind,

2.welcher Tarifvertrag oder welche kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen in den Fällen des Absatzes 3b Satz 1 Nummer 1 bis 3 für sie maßgebend ist oder sind oder

3.ob im Fall des Absatzes 3b Satz 1 Nummer 4 die veröffentlichte Höhe der regional üblichen Entlohnungsniveaus nach § 82c Absatz 2 Satz 2 Nummer 2 und die veröffentlichte Höhe der regional üblichen Niveaus der pflegetypischen Zuschläge nach § 82c Absatz 2 Satz 2 Nummer 3 für sie maßgebend sind.

Oder in Kurzform:

Zum 01.09.2022 müssen alle Pflege- und Betreuungsdienste in Deutschland sich erklären, nach welchem Tarif oder Tarifanlehnung oder regionalem Entgelt sie ihre Mitarbeiter/innen vergüten wollen. Ohne eine Beachtung dieser Pflicht aus dem Tariftreuegesetz dürfen Pflegekassen in Zukunft keinen Versorgungsvertrag (Zulassung für die ambulante Pflege) mehr ausstellen.

Die regionalen Entgelte wurden z.B. anhand von Meldungen von tarifgebundenen Trägern ermittelt. Wie und weshalb so verschiedene Ergebnisse in den einzelnen Bundesländern entstanden sind und warum ein regionales Entgelt pro Bundesland errechnet wurde, bleibt unbeantwortet.

Obwohl der Gesetzgeber im Jahr 2021 dieses Gesetz mit entsprechenden Verpflichtungen auch für die Pflegekassen beschlossen hat, sind eine Reihe von notwendigen Klärungen und Fragen nicht beantwortet und Fristen nicht eingehalten worden. Auch heute (Ende September 2022) sind noch eine Reihe von Umsetzungsfragen offen.

Entgegen der gesetzlichen Vorgabe wurden Meldefristen verschoben. Letztendlich zum 30.04.2022 mussten alle Pflege- und Betreuungsdienste in Deutschland spätestens bei der Daten-Clearingstelle melden, ob sie

  1. Einem anerkannten Tarif beitreten oder
  2. Einen anerkannten Tarif in Teilen anwenden oder
  3. Ein regional übliches Entgelt anwenden wollen.

Die wirtschaftliche Grundlage jedes ambulanten Pflege- und Betreuungsdienstes erfolgt überwiegend somit einerseits über die Pflegeversicherung (SGB XI), jetzt verbunden mit den Verpflichtungen aus dem Tariftreuegesetz, andererseits über eine Vergütungsvereinbarung nach §§ 132, 132a SGB V (häusliche Krankenpflege). Ergänzende Anmerkung: Viele Pflege- und Betreuungsdienste haben als dritten Finanzierungsteil Entgelte aus privaten Leistungen.

Die Regelungen aus dem Tariftreuegesetz sind auch für die Zulassung nach §§ 132, 132 a SGB V gilt entsprechend.

Teil 2: Umsetzung und -Übertragungsprobleme:

Erfasst durch das Tariftreuegesetz sind nur die Mitarbeiter/innen in Pflege und Betreuung, die mehr als 50 % ihrer regelmäßigen Arbeitszeit Pflege- und Betreuungsleistungen erbringen. 

Leitungskräfte, Mitarbeiter/innen in der Hauswirtschaft und weitere Kräfte im Pflege- und Betreuungsdienst werden aus Sicht des Gesetzes nicht erfasst.

Umsetzung SGB XI: 

In Niedersachsen wurde auf Landesebene Anfang 2022 ein vereinfachtes Verfahren (Cluster, verbunden mit Punktwerten) vereinbart, in dem Pflege- und Betreuungsdienste wenige Daten (Anwendungsplanung welcher Tarif oder welcher Regelung; anonymisierte Mitarbeiter nach Berufsgruppen, bisheriger Punktwert etc.) in eine Matrix eingeben mussten und aufgrund dieser Eingaben schon den neuen Punktwert selbst errechnen konnten. Bis auf wenige Fälle wurden seitens der Pflegekassen in Niedersachsen schon seit Frühjahr 2022 deutlich höhere Punktwerte (zum Teil bis zu 25% höhere Punktwerte) bestätigt und vertraglich vereinbart. 

In anderen Bundesländern stellte sich die Umsetzung mit den Pflegekassen nicht so einfach da und ist bis heute z.T. noch nicht abgeschlossen. 
Damit verbunden ist eine offene Frage, ob Träger juristisch trotzdem das Tariftreuegesetz schon umsetzen und Mitarbeiter/innen höhere Gehälter zahlen müssen, obwohl die Refinanzierung der Mehrkosten nicht durch neue Vereinbarungen mit den Pflegekassen gedeckt sind.

So „einfach“ die Umsetzung mit den Pflegekassen war, umso komplizierter ist die Umsetzung mit den Krankenkassen. 

Diese berufen sich auf die Verpflichtung der Beachtung der Grundlohnsummensteigerung, die jährlich vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) errechnet und festgelegt wird. Die Grundlohnsummensteigerung beträgt für das Jahr 2,29 %.

Wenn durch das Tariftreuegesetz nun Gehälter zum Teil um 15%, 20%, 25 % steigen werden und eine Refinanzierung mit den Pflege- und Krankenkassen jedoch nicht zum 01.09.2022 geklärt ist, haben Pflege- und Betreuungsdienste aktuell ein dringend zu klärendes Problem, um nicht im Herbst/ Winter 2022 in eine wirtschaftliche Schieflage zu kommen.